Leseprobe
Aus dem Kapitel über Antisemitismus in Halberstadt
In der Bakenstraße gab es in den zwanziger Jahren einen Schuster, seinen Namen haben alle vergessen. Der hatte in seinem Vorgarten einen Kasten mit dem "Stürmer", dessen Aushang er immer wechselte, wenn eine neue Nummer des "Kampfblattes gegen die jüdische Greuel- und Boykotthetze" erschienen war. .Die Erwachsenen, so erinnert sich Judith, verlangsamten nicht einmal ihren Schritt, aber die Kinder begannen zu trödeln, wenn sie sich den schauerlichen Bildern näherten. Einmal sprang eine Schlagzeile in die Augen:
KÖPFE ROLLEN
las der jüdische Nachwuchs mit runden Augen. Das Deckblatt zeigte eine Zeichnung,, auf der eine riesige Hand einen garstigen Schädel von einem dürren Hals säbelte....... Und obwohl er die Illustrationen doch sicher zur Schau stellte, um die Aufmerksamkeit der Passanten zu wecken, schienen die faszinierten Schüler den Handwerksmeister heftig zu erzürnen, denn er warf die Schuhe weg, die er gerade besohlte und stürzte nach draußen. "Verfluchte Judenbande!" schrie er hinter den flüchtenden kleinen Beinen und den hüpfenden Schulranzen her, schüttelte seinen Stock und trottete grollend in seine Werkstatt zurück.
........In der Inflationszeit und auch später tauchten immer mal wieder Plakate in den Straßen auf. "Juden raus!" und "Die Juden sind unser Unglück!" war zu lesen, illustriert mit bärtigen Fratzen, die heimtückisch grinsten, vor denen sich die kleine Ida fürchtete, als könnten sie jederzeit lebendig werden. In Palästina gäbe es so etwas nicht, tröstete sie der Vater. Eines Tages würden sie alle zusammen dort im Schatten einer Plantane sitzen.........
Ganz fröhlich kam die kleine Ida eines Tages aus dem Unterricht, und als sie unterwegs einen "arischen" Nachbarn traf, rief sie ihm zu: "Wir haben gelernt und mein Vater sagt es auch - wir gehen nach Palästina!" "Wie wollt ihr denn da hinkommen?" fragte der Angesprochene und blieb stehen. Ida hopste vor Vorfreude auf und ab und blinzelte in die Frühlingssonne. "Wenn der Messias kommt!" erwiderte sie zuversichtlich. "Der Messias bringt uns dorthin." Der Nachbar sah sie kopfschüttelnd an und deutete auf eines der unheilvollen Poster:
"Na, wartet man! Euer Messias.......das wird wohl der Hitler sein." |